Der Unterschied liegt in der Welt der Gefühle

Die amicative Praxis ist mit denselben Fragen und Problemen konfrontiert, wie sie in allen Familien auftauchen. Eine Herdplatte ist heiß, die Straße ist gefährlich, die Schulpflicht besteht, zu spät ins Bett gehen ist ungesund, Zucker verdirbt die Zähne, zuviel Fernsehen ist schädlich, Hustensaft ist nötig, im Auto wird sich angeschnallt, an den Haaren ziehen tut weh, zu spät kommen bringt Ärger und so weiter und so fort.

»Lässt Du Dein Kind verhungern, verbrennen, ertrinken, überfahren, andere schlagen, Sachen zerstören ...?« Hunderttausend Fantasien. »Nein, lasse ich nicht.« Eine einzige, klare Antwort.

Die amicative Sicht katapultiert niemanden aus der Wirklichkeit, der amicative Alltag findet hier und heute statt. Und dennoch ist es anders als in der Wohnung nebenan, in der die Eltern mit der traditionellen, der pädagogischen Sicht vom Kind leben. Was den Unterschied ausmacht, ist die amicative Einstellung – und diese liegt in der Welt der Gefühle.

Es ist zu einseitig, wenn man die Praxis nur unter dem Aspekt der anfassbaren Dinge und der körperlich beobachtbaren Abläufe sieht, denn Menschen existieren nicht nur im Bereich des Körperlichen, wie Roboter. Zu jedem Menschen gehört auch eine unsichtbare Welt: die Welt der Gefühle, der Wertungen und Interpretationen. Alles Dingliche und jede Handlung wird mit dieser Inneren Welt begleitet. Die Wirklichkeit von Robotern ist die Äußere Welt. Die Wirklichkeit des Menschen ist mehr. Sie besteht aus zwei Dimensionen: Außen und Innen, Dinge und Gefühle, Körper und Seele. Zusammen ergeben sie die Wirklichkeit des Menschen.

Jemand kommt nach Hause und will die Tür aufschließen, doch der Schlüssel passt nicht. Das ist etwas zum Anfassen, aus der Welt der Dinge: Dieser Schlüssel passt nicht. Wenn man mit dem Schlüssel vor der Tür steht, ereignet sich auch in einem selbst etwas. Wie fühlt sich das an, mit einem Schlüssel, der nicht passt, vor der Tür zu stehen? »Der Schlüssel passt nicht« ist der eine Teil der Wirklichkeit, der physische Teil. »Ich bin ratlos (oder verärgert oder belustigt)« ist ihr psychischer Teil. »Der Schlüssel passt nicht, und ich bin ratlos« ist die ganze Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit des Beispiels besteht aus einem dinglichen Teil (nicht passender Schlüssel) und aus einem emotionalen Teil (ratlos sein). Die amicative Praxis ist nicht – wie immer wieder vermutet wird – in ihrem dinglichen Teil verschieden von der Praxis pädagogischer Menschen. Denn wie in der pädagogischen Welt gibt es auch in der Amication für ein Problem entweder vielfältige oder stets dieselben Lösungen. Auch bei amicativen Menschen lassen die einen ihre Kinder Süßigkeiten essen und die anderen nicht (Vielfalt der Lösungen), auch bei amicativen Menschen verhindert jeder, dass sein Kind unter den Lastwagen kommt (Gleichheit der Lösungen).

Wenn man die Äußere Welt betrachtet, sieht die amicative Praxis sehr oft genauso aus wie die pädagogische, in der Vielfalt oder Gleichheit der Lösungen konkreter Probleme. Wie in einem Stummfilm erkennt man die Handlungen: Die eine Mutter holt ihr Kind von der Steckdose fort, die andere auch. Welche von beiden ist die amicative Mutter? Das lässt sich so nicht herausfinden. Nicht, wenn man die Welt der Gefühle unberücksichtigt lässt und nur auf die Handlung sieht (keinen Ton beim Film hört).

Erst wenn man sich die Szene mit eingeschaltetem Lautsprecher ansieht, wird es deutlich. Jetzt gibt es Informationen über die Gefühle, die sich in der Höhe und Tiefe der Stimme, in ihren Schwingungen und ihrem Ausdruck mitteilen. Zusammen mit den anderen Körperbotschaften der Seele (Mimik, Gestik u. a.) erfährt man etwas über die Einstellungen der beiden Mütter: Man erfährt, dass sie zu sich selbst, zu ihren Kindern und zur Welt grundlegend verschiedene Haltungen haben: eine amicative Haltung oder eine pädagogische Haltung. Und was immer wieder gleich aussieht, ist doch gänzlich verschieden.