Konflikt: Durchsetzen, Macht und Empathie

Verantwortlich in seinem Leben ist ein jeder für sich selbst: „Was will ich? Was will ich wirklich?“ Jeder bringt in seine Entscheidungen sein Wissen ein, seine Erfahrungen, seine Gefühle. Situative Faktoren kommen hinzu, Perspektiven, Ziele, Wünsche, Grenzen und vieles mehr. Alle Größen und Befindlichkeiten bilden das Insgesamt, aus dem heraus ein jeder handelt, vor Ort, jetzt. Das gilt auch im Konfliktfall.

Man muss sich nicht durchsetzen, aber oft ist es doch unverzichtbar. Als Erwachsener gelingt das Kindern gegenüber in den Konfliktbereichen, wo man die besseren Machtmittel hat: zum Beispiel in Argumentationskonflikten, Finanzkonflikten, Muskelkraftkonflikten. Man gewinnt damit etwa 40 Prozent aller Konflikte mit Kindern. Die Kinder haben zu rund 60 Prozent die Chance, einen Konflikt zu ihren Gunsten zu entscheiden, denn sie sind Erwachsenen in Konflikten immer wieder psychosomatisch überlegen. Dies betrifft rein körperliche Größen wie das biologisch wirksame Kindchenschema, vor allem haben sie aber psychisch-emotionale Machtmittel, fein abgestimmte Töne für die jeweiligen Empfindlichkeiten ihrer Erwachsenen. Sie beherrschen genau die Stimmlage, die bei diesem Erwachsenen so, beim anderen anders zum Erfolg führt. Man kann dieses Verhalten als »Jammern« und »Nörgeln« diskriminieren, doch tun die Kinder nichts anderes als Erwachsene: Sie setzen ihre vorhandenen Machtmittel ein für das Kind, das ihnen anvertraut ist – für sich selbst.

In einer amicativen Beziehung geht es jedoch nur selten um das Sich-Durchsetzen. Wiewohl Machtmittel da sind und Erwachsene sich (zu 40 Prozent) und Kinder sich (zu 60 Prozent) durchsetzen könnten, kommen Machteinsatz und Durchsetzen wirklich selten vor. Das klingt paradox, ist aber eine überzeugende Konsequenz amicativer Kommunikation.

Denn bei aller Gegensätzlichkeit im Handlungsbereich: auf der psychischen Ebene findet kein Angriff gegen die Innere Welt des Kindes statt. Das „Nein“ des Kindes wird als Ausdruck eines Menschen mit Innerer Souveränität verstanden, der einen anderen Weg gehen will – den der Erwachsene aus seinen Gründen heraus aber nicht zulassen kann. Es geht dabei nicht um ein psychisches „Sieh das ein“, sondern nur um das handlungsmäßige „Tu es“ bzw. „Tu es nicht“. Es geht nicht um Trotz, den es zu brechen gilt, nicht um das Teufelchen, das man zum Besten des Kindes austreiben muss, nicht um das Abendland, das in der Seele des Kindes gerettet sein will. Im amicativen Konflikt gibt es keinen Angriff auf die Seele des Kindes und deswegen auch nicht eine entsprechend vehemente Verteidigung dagegen. Ein amicativer Konflikt verläuft in anderen Bahnen, jenseits von missionarischem Eifer und innerer Not des Erwachsenen und jenseits von Wut und Hass des Kindes.

Frei von Trotzbrechen, Teufelaustreiben und Abendlandretten wird für den Erwachsenen anderes möglich: psychisches Hören – Empathie. In gleicher Weise kann das Kind den Erwachsenen psychisch wahrnehmen, denn da es nicht angegriffen wird, muss es seine Energie nicht in der Verteidigung gegen den Erwachsenen aufreiben. Beide können deswegen die jeweilige Dringlichkeit des anderen mitbekommen. Beide sind offen zu merken, wie wichtig dem anderen sein Interesse wirklich, d.h. auf der emotionalen und existentiellen Ebene, ist. Sie nehmen einander wahr, sie erfahren auch im Konflikt, wer der andere nach seinem Selbstverständnis ist. Empathie ist eine Standardgröße im Alltag amicativer Menschen.

Der Erwachsene und das Kind informieren sich also auf der verbalen Ebene über ihre Interessen und zugleich auf der emotionalen Ebene über ihre Dringlichkeiten. Dies geht ein paar Mal hin und her, mal mit Worten, mal mit Erklärungen, mal ohne. Dann kann es zwar vorkommen, dass sich einer durchsetzt, aber die Regel ist, dass der eine den anderen machen lässt. Denn die Dringlichkeiten zweier Menschen sind selten genau gleich wichtig. »Dann mach du« – dies liegt näher. Das geht aber nur, wenn nicht existentielle Wichtigkeiten im Zentrum des Konflikts stehen: Gehorsam und Einsicht, die der Erwachsene vom Kind einfordert, Würde und Selbstachtung, die das Kind vom Erwachsenen respektiert wissen will.

Die amicative erziehungsfreie Praxis funktioniert tatsächlich genau so, Konflikte werden nicht mit (bewundernswerter) Mühe gelöst, sondern sie lösen sich meistens von selbst auf. Dies wird nicht irgendwie gemacht, vorbereitet, erarbeitet oder ähnlich angestrebt. Der amicative Alltag mit Kindern lässt sich nicht inszenieren. Es ist ein authentisches Geben und Nehmen gleichwertiger Partner. Der beiläufige tägliche Friede mit Kindern wird als Geschenk erlebt, das sich aus der amicativen Haltung ergibt.