Lehrer: Realität und Vision

1. Die Monstrosität des Lehrerseins
»Mit welchem Recht ...?«
Ich will mit der Frage »Mit welchem Recht?« sehr grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schule aufwerfen. Dabei weiß ich, dass man meine Gedanken als unzulässige oder auch als herabsetzende Vorhaltungen abtun kann. Doch ich halte alle Überlegungen zum Thema Schule für zulässig, und ich setze niemanden herab, auch keinen Lehrer, auch nicht, wenn ich meine Gedanken ungeschminkt vortrage. Selbstverständlich kann jeder meine Position ablehnen. Aber jede Lehrerin und jeder Lehrer können meine Überlegungen auch als Ausdruck einer neuartigen und ungewohnten Perspektive begreifen, zuhören und in sich hineinlauschen.

Die Basis meiner Überlegungen ist, dass es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass die anthropologische Voraussetzung für die Schule stimmt. Die anthropologische Voraussetzung heißt: Kinder werden vollwertige Menschen – was auch bedeutet: Kinder sind noch keine vollwertigen Menschen. Kinder werden Menschen erst durch die Leistungen der Schule, sie werden zivilisiert, kultiviert, sozialisiert. Ohne »Subjekt, Prädikat, Objekt« und ohne »(a + b) · (a + b)« und ohne all die anderen tausend Dinge, die in den Lehrplänen der Klassen eins bis zehn stehen, gelingen Kinder nicht. Der Mensch ist ein »Homo educandus«, ein Erziehungswesen, und dass Menschen zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft reifen, ist die Aufgabe – auch – der Schule. Und die Aufgabe der Erwachsenen, die in der Schule für dieses Ziel arbeiten.

Mir ist jedoch bewusst und ich übersehe nicht, dass die anthropologische Grundposition »Kinder werden vollwertige Menschen« eine Hypothese ist – und zwar nur eine Hypothese, nicht aber eine Tatsache. Sie ist eine tief verwurzelte Vermutung der heutigen Welt über die Kinder. Ich habe mich von dieser Vorstellung gelöst und bevorzuge eine andere Hypothese: Kinder sind vollwertige Menschen. Von Anfang an. Sie müssen nicht erst dazu gemacht werden, auch nicht auf die progressivste Art und Weise, auch nicht durch die Schule. Damit entfällt die Basislegitimation für die Schule. Und von daher – von der Position aus, dass Kinder immer schon vollwertige Menschen sind – kommt die Frage »Mit welchem Recht?«.

Gedankenfreiheit
Mit welchem Recht legen Sie fest, was ein anderer Mensch zu denken und was er nicht zu denken hat? »Schlag dein Buch auf, lies den zweiten Absatz von oben!«, »Wiederhole, was ich gerade gesagt habe!«, »Gib den Text mit eigenen Worten wieder!«, »Wie viel ist sieben mal acht?«, »Wo fließt der Amazonas?«, »Wann, warum, womit, weshalb, wodurch, weswegen, wohin, wie lange, wozu, wie oft, wie gut, wie schnell, mit wem, mit wem nicht, mit welchem Recht, ...?« Mit welchem Recht setzen Sie sich grandios über das Recht eines anderen Menschen hinweg, zu denken, was er will? Warum missachten Sie das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit? Permanent, ohne auch nur irgendeinen Impuls des Innehaltens, des Ahnens, dass da etwas Ungeheuerliches passiert? Mit welchem Recht greifen Sie so ohne jeden Skrupel in die innere Souveränität eines anderen Menschen ein? Mit welchem Recht zelebrieren Sie in geradezu religiösem Fanatismus diesen kulturellen Imperialismus? Mit welchem Recht behandeln Sie die Kinder wie die Nigger, denen der Missionar die Religion und Zivilisation beizubringen hat? Warum haben Sie wie die kommunistische Partei immer recht? Was treibt Sie in diesen unreflektierten Chauvinismus?

Vollwertigkeit
Was hindert Sie eigentlich, in Kindern Menschen zu sehen, die ihre eigenen Gedanken und ihre eigene innere Welt haben, mit der man von Gleich zu Gleich in Austausch treten kann? Was treibt Sie in den »pädagogischen Bezug«, der Ihnen die Führungs- und Formungsrolle gibt, egal, wie progressiv sich das heute ausnimmt? Wozu ist es gut, dass Sie selbst nach und nach versteinern, weil Sie immer dieselben Fragen stellen und ohne wirklichen geistigen Austausch leben – den Sie verfehlen, wenn Sie Kinder nicht als vollwertige Menschen mit einer eigenen souveränen geistigen Welt sehen, sondern als Behälter, die mit Ihrem Wissen und Ihrer Kultur gefüllt werden müssen? Warum sind Ihre Augen verschlossen vor dem Leid, das Sie diesen Menschen psychisch, intellektuell und spirituell zufügen? Und vor dem Leid, das Sie sich durch die dadurch bedingte Isolation selbst zufügen?

Machbarkeitswahn
Warum verschließen Sie sich dem kulturellen Paradigmawechsel vom Oben – Unten hin zur Gleichwertigkeit und  zur Achtung vor der Identität des anderen? Wie er längst gelungen ist in den Lebensbereichen Schwarz – Weiß, Mann – Frau, Mensch – Natur, Kultur – Kultur, Religion – Religion und vielen anderen? Mit welchem Recht setzen Sie den historisch überholten Totalitarismus im Klassenzimmer fort? Mit welchem Recht huldigen Sie Ikonen wie Comenius, Kant, Pestalozzi, Rousseau, Steiner, Montessori, Neill, Makarenko, Korczak, Freinet und tausend anderen, die – bei allen guten Absichten – den Charakter des »Homo faber« haben, des Menschen, der etwas herstellt und sein Produkt abliefert: Die mehr oder weniger gelungenen Kinder an die auftraggebende Gesellschaft? Warum treten Sie nicht als ein Mensch auf, der jenseits pädagogischer Listen und Missionen authentisch handelt, situativ entscheidet, personal-wahrhaftige Kommunikation realisiert und sich dabei als »Homo politicus« versteht? Mit welchem Recht bilden, formen, führen, gestalten, hegen, erziehen Sie Menschen, die längst, von Anfang an, vollwertige Menschen sind? Mit welchem Recht verordnen Sie im Machbarkeitswahn gottgleicher Sendung anderen Menschen Ihre kulturelle und zivilisatorische Vorstellung von Menschsein?

Meinungsfreiheit
Mit welchem Recht verstoßen Sie gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit? Warum können die Kinder nicht sagen, was sie wollen und wann sie es wollen? Was heißt »Ihr seid zu laut!«, »Du bist nicht dran!«, »Rede vernünftig!«, »Das passt nicht hierher!« eigentlich? Mit welchem Recht maßen Sie sich an, anderen Menschen über den Mund zu fahren? Warum führen Sie mit Ihrem »Ruhe jetzt!« einen Luftkrieg? Mit welchem Recht sind nur Ihre Gedanken und Ihre Worte verbindlich, und warum haben die Kinder keine wirkliche Möglichkeit zum Widerspruch, zum Vorbringen eigener Meinungen, zur Vertretung ihrer Interessen? Mit welchem Recht hängt alles grundsätzlich und im Detail immer wieder von Ihrem Wohlwollen ab, wie in der Leibeigenschaft? Mit welchem Recht üben Sie im Klassenzimmer Diktatur aus und missachten Sie die Grundwerte der Demokratie? Mit welchem Recht gilt für Sie nicht »Die Würde des Menschen ist unantastbar«? Mit welchem Recht tasten Sie die Würde der Kinder an, denken und sagen zu können, was sie selbst denken und sagen wollen?

Freiheit der Person
Mit welchem Recht sperren Sie Menschen ein? Warum  sind Sie die Person, die Kinder in engen Räumen gefangen hält? 30 Personen in einem einzigen, wenige Quadratmeter großen Raum, 45 Minuten um 45 Minuten, 4, 5, 6, 7, 8mal am Tag, 5 oder 6 Tage in der Woche? Warum müssen die Kinder durch Sie 10 Jahre lang erleben, dass sie viele Stunden am Tag in ein Gefängnis gehören, in das »Teilzeitgefängnis Schule«? Mit welchem Recht missachten Sie die »Freiheit der Person« des Grundgesetzartikels 2? Warum lassen Sie zu, dass die Kinder Ihnen hinter verschlossenen Türen ausgeliefert sind? Mit welchem Recht fördern und garantieren Sie tagtäglich diese umfassende Kindesmisshandlung? Warum geben Sie sich für etwas her, für das die Bezeichnung »Gehirnwäsche« milde, »Seelenmord« drastisch ist? Warum lassen Sie sich dafür einspannen, in einem gigantischen Umerziehungslager, das Menschen ihre Identität bricht und neu justiert, den Vorsitz dieser Barbarei zu übernehmen? Mit welchem Recht lassen Sie zu, dass Menschen in Not nicht bei denen Schutz und Trost finden können, denen sie vertrauen und die sie brauchen? Wenn eine Siebenjährige in der dritten Stunde nach Hause zu ihrer Mutter will – was verführt Sie zu der Unmenschlichkeit, das nicht ohne Wenn und Aber zuzulassen?

Körperliche Unversehrtheit
Mit welchem Recht greifen Sie in die grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit anderer Menschen ein, indem Sie mit tausenderlei Anordnungen ein bestimmtes körperliches Verhalten verlangen und ein anderes verbieten? Nicht nur im Sport-, Schwimm- und Musikunterricht, sondern den ganzen Schultag über auf Schritt und Tritt? »Setz dich! Steh auf! Steh still! Sitz ruhig! Sitz gerade! Sitz ordentlich! Hampel nicht! Wackel nicht! Kippel nicht! Füße runter! Knie zusammen! Zeig auf! Finger runter! Finger weg! Schreib schneller! Andere Hand! Hand geben! Hand auf! Zeig her! Gib her! Leg weg! Komm her! Geh weg! Geh langsam! Trampel nicht! Schlurf nicht! Renn nicht! Geh schneller! Schlag nicht! Box nicht! Tritt nicht! Kratz nicht! Beiß nicht! Spuck nicht! Spuck aus! Kaugummi weg! Puste nicht! Mund auf! Mund zu! Iss nicht! Iss jetzt! Trink nicht! Trink jetzt! Schmatz nicht! Schlürf nicht! Sieh her! Sieh weg! Lach nicht! Grins nicht! Sing nicht! Pfeif nicht! Kreisch nicht! Kicher nicht! Nase putzen! Schnief nicht! Jetzt nicht aufs Klo! Schrei nicht! Heul nicht! Rede lauter! Rede leiser!«

Noten
Mit welchem Recht geben Sie eigentlich Noten? Haben die Menschen vor Ihnen Sie darum gebeten? Mit welchem Recht verlangen Sie Auskunft über die Gedanken anderer Menschen? Mit welchem Recht verlangen Sie, dass andere Menschen ihre Gedanken auf Ihr Papier schreiben, das Sie hochtrabend »Klassenarbeit« nennen? Mit welchem Recht beurteilen Sie die Kinder, mischen Sie sich in das Selbstwertgefühl anderer Menschen ein, stiften Sie zum Krieg in den Familien an, treiben Sie Kinder in den Selbstmord aufgrund Ihrer Schulzeugnisse? Wissen Sie eigentlich, was Ihre Noten in den Familien bewirken können? An seelischer Grausamkeit und körperlicher Misshandlung?

Traumatisierung
Mit welchem Recht traumatisieren Sie die jungen Menschen vor Ihnen? Warum tun Sie das alles? Sind Sie nicht intelligent, Akademiker, können Sie nicht Zusammenhänge analysieren, Wirklichkeit erkennen? Was verschließt Ihre Augen? Sind Sie nicht angetreten, Menschen zu helfen, ihre Entwicklung zu fördern? Haben Sie nicht Sympathie für die Kinder? Lieben Sie nicht die Kinder? Warum erheben Sie sich nicht gegen dieses System? Warum sind Sie der Garant für diese Inhumanität? Warum sind Sie so unsensibel? Liegt nicht alles offen vor Ihnen? Sagen Ihnen die Kinder nicht jeden Tag die Wahrheit, wortlos und immer wieder auch mit Worten? Warum sehen Sie nicht in die Gesichter der Kinder? Und warum achten Sie nicht auf ihre Mimik, Gestik, auf all die nonverbalen Signale? Sind vor Ihnen keine Menschen? Und Ihre Erinnerung? Waren Sie nicht selbst Schulkind? Wurde mit Ihnen nicht ebenso verfahren? Waren die damaligen Schmerzen und psychischen Verletzungen denn berechtigt? Haben Sie nicht gelitten? Ist das Leid von damals zu groß, um heute zu erkennen, dass Sie selbst derjenige sind, der dies den heutigen Kindern zufügt? Ist das alles Wiederholungszwang, Wahnsinn, Schicksal? Mit welchem Recht ...? Mit welchem Recht ...?

2. Die Humanität des Lehrerseins
Selbstverständlich gibt es eine Alternative. Meine Hilfe ist vor allem für die Lehrerinnen und Lehrer gedacht, die der Wahrheit, so wie ich sie sehe, nicht ausweichen und die sich eingestehen können, dass sie an den Vormittagen Menschenrechte beugen und Geld durch die Unterdrückung von Kindern verdienen.

Wenn man schon in der Schule als Lehrer arbeitet, dann kann man das mit klarem Bewusstsein von dem tun, was man dort anstellt, und dass dies durch nichts wirklich zu rechtfertigen ist. Das Wissen davon, dass man Unrecht tut, und dass man es als solches erkennt, teilt sich den Kindern ohne Worte mit. Die Haltung eines Lehrers, der weiß, was er tut, ist eine andere als die eines Lehrers, der mit einer imperialen, die Wirklichkeit verschleiernden Haltung vor die Kinder tritt. Auf die stumme Frage der Kinder: »Warum tust du das?«, kann er antworten, ebenfalls ohne Worte: »Ich weiß es nicht so genau. Vielleicht wegen meiner Biographie. Meiner Naivität. Weil ich die Zusammenhänge anders gesehen hatte und nun nicht aussteigen will. Wegen der vielen Vorteile: Geld, Macht, Arbeitsplatz, Pension, Urlaub. Wegen meiner Ideale, meiner Liebe zu Kindern, zum Frieden. Vielleicht wollte ich zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen. Aber ich sehe jetzt: Ich tue euch Unrecht. Ich weiß es, und ich verschleiere es nicht. Ich sage nicht, dass das alles zu eurem Besten ist. Ich lasse euch in die Wahrheit meines Herzens sehen.«

Die Kinder reagieren: »Er ist ehrlich. Er tut dasselbe wie die anderen Lehrer, aber es fühlt sich anders an. Das Leid, das von ihm ausgeht, hat nicht diese Wucht. Er achtet uns als vollwertige Menschen, auch wenn er uns und unsere Rechte unterdrückt.« Die Zerrissenheit, stets um das Unrecht zu wissen, das man tut, es zu verabscheuen und nicht tun zu wollen und es im gleichen Atemzug aber doch konkret zu tun, kompromisslos und entschieden zu tun, hat auch etwas Komisches und Befreiendes: Der Schleier vor der Macht ist zerrissen, sie ist ungeschminkt zu erkennen. Das, was geschieht, unterliegt nicht länger einem Tabu, gleichsam gottgewollt, unhinterfragbar, sondern wird bei aller Unrechtmäßigkeit und Belastung verständlich, überdenkbar, kritisierbar. Genau solche Prozesse löst dieser Lehrer mit seiner Wahrhaftigkeit aus, und genau das spüren die Kinder, und genau das hilft und heilt.

Lehrer mit dem Bewusstsein von den Menschenrechtsverletzungen, die von ihnen ausgehen, sind eine große Hoffnung für die Kinder. Sie sind nicht nur die, die den Gedanken an den einstigen Sturz der Schule verkörpern und ihn eines Tages mittragen werden. Sie sind vor allem diejenigen, die hier und heute Gleichwertigkeit und Personalität zur unausgesprochenen Grundlage der Lehrer-Schüler-Beziehung machen. Durch sie wird die Achtung vor der Würde des Schulkindes immer wieder eine konkrete und eindringliche Erfahrung.

Diese Lehrer haben eine spezifische achtungsvolle Ausstrahlung. Diese Lehrer lassen Fünfe gerade sein. Diese Lehrer geben zu verstehen, dass sie Noten geben müssen, und dass diese Noten niemals etwas mit dem Wert der Kinder, sondern nur etwas mit dem Schulmaßstab zu tun haben. Diese Lehrer sind darüber hinaus eine klare Orientierung, denn sie stehen für sich selbst ein, lassen sich nicht auf der Nase herumtanzen, sind nicht falsch verstanden kinderfreundlich. Sie sind Lehrer mit all diesen Schuldingen, Feinde, aber Feinde, die die Würde der Kinder nicht aus dem Auge verlieren. Diese Lehrer haben eine von innen kommende Autorität, die sich nichts anmaßt. Diese Lehrer haben etwas von der Harmonie wieder gefunden, von dem inneren Gleichgewicht, das sie nicht wirklich über die Kinder stellt. Sie stehen über den Kindern nur aufgrund der Struktur, die das von ihnen verlangt. In ihrem Herzen sind diese Lehrer auf einer gleichwertigen Ebene mit den Kindern, und sie geben der Schule, was der Schule ist, ohne Verbrämung, Pathos und  Schönrederei. Diese Lehrer haben sich dadurch, dass sie erkennen, was sie tun, auch zu sich selbst befreit, und ihre Persönlichkeit ist ohne Realitätsverlust und ohne Lüge.

Ein Lehrer, der diese Zusammenhänge erkennt, kann durch die Entschleierung der Realität und durch die Aufdeckung der Lüge sich selbst wieder im Mittelpunkt seines Lebens sehen, auch seines Lebens in der Schule. Er ist zunächst nicht für die Kinder da – er ist zuallererst für sich selbst da, verantwortlich für das groß gewordene Kind, das er ist, und er kümmert sich vor allem um dieses Kind: um sich selbst. Mithin ist er das 31. Kind in der Klasse, und bevor er sich den 30 anderen zuwendet, sorgt er für sich. Zum Beispiel dafür, dass es keine Grenzüberschreitung gibt, und zwar ihm gegenüber. Wenn Worte und Erklärungen nicht reichen, wenn Bitten und Ermahnungen nicht helfen, greift er energisch zu den Abscheulichkeiten, die die Schule zu seinem Schutz aufbietet: Lärm – wird im Keim erstickt. Keine Hausaufgaben – die Daumenschrauben werden angelegt. Ungehörigkeiten – es geht den Strafkatalog rauf und runter. Er setzt dann Autorität für sich ein, nicht aber gegen die Kinder. Und genau das nimmt seiner Aktion das Gift und macht sie erfolgreich.

Dieser Lehrer setzt sich für sich ein, und dafür, dass er an seinem Arbeitsplatz zurechtkommt. Auch dadurch, dass er die Kollegen nicht durch zu viele Zugeständnisse an die Kinder gegen sich aufbringt. Er behält die Übersicht. Er weiß, wo er gelandet ist, und seine befreite Sicht bewirkt nicht einen neuen Realitätsverlust: Er ist in einer Schule, nirgendwo sonst. Er wahrt die Balance zwischen den unzweifelhaft berechtigten Wünschen der Kinder, als vollwertige Menschen behandelt zu werden, einerseits, und den täglichen Anforderungen der heutigen Schule und seiner konkreten Arbeitssituation andererseits. Dieser Lehrer ist realistisch, aufgeklärt und so einfühlsam und konkret hilfreich, wie er sich das in Abschätzung aller Möglichkeiten leisten kann. Er transportiert Humanität und Freundlichkeit offen oder auch auf Schleichwegen ins Klassenzimmer, so wie es kommt, flexibel, ohne sich unter Druck zu setzen, ohne Stress. Seine Klarheit befreit ihn auch hier.

Dieser Lehrer weiß auch, dass er die Schule jederzeit verlassen kann. Wenn er jedoch bleibt, hält er sie aus, und auch das, was er dort tut, und er ist dabei so hilfreich, wie er kann. Und warum sollte er die Schule auch verlassen? »Wenn du gehst, kommt Herr Meier an deiner Stelle, das wollen wir nicht«: Das Votum der Kinder ist eindeutig, und bei allem Leid, das von ihm kommt, fühlen sie sich doch von ihm gestützt und geachtet. Die Botschaft, die von diesem Lehrer ausgeht, ist eine machtvolle, im Untergrund und im Herzen wirkende Strömung: »Ich bin ein vollwertiger Mensch von Anfang an – so wie ihr auch. Ich glaube an mich – so wie ihr auch an euch glauben könnt. Ich liebe mich, so wie ich bin – so, wie auch ihr euch lieben könnt, wie immer ihr seid.«