Lernen ohne Sollen: Die geistige Freiheit des Kindes

Wenn die Kinder das Recht auf selbstbestimmtes Lernen haben, wenn ihnen die Gedankenfreiheit und Meinungsfreiheit nicht mehr im Namen von Zivilisation und Enkulturation abgesprochen werden, wenn die Schulpflicht aufgehoben und die heute bestehende Schule abgeschafft werden – was wird dann sein?

Was geschieht, wenn Kinder nicht in einem pädagogischen Weltbild sondern in selbstverantworteter geistiger Freiheit groß werden? Wenn eine Pflichtschule obsolet ist, wenn Kindern ihr Lernen gehört und sie ihr Weltverständnis in eigener Regie entwickeln? Welche Werte werden dann gelten? Wie wird die Welt dann aussehen?

Die Fantasie, die zur Beantwortung dieser Fragen aufgerufen ist, ist gefangen in langer Tradition, und negative Antworten sind sofort abrufbar. Wieso eigentlich? Warum drängen sich die Bilder von Chaos, Ausbeutung, Willkür, vom Untergang der Zivilisation auf, wenn Kinder mit Freiheit assoziiert werden, wenn dieser Grundwert unserer Kultur auf die Kinder gedacht wird?

Das Menschenbild vom Kind, das den negativen Antworten zugrunde liegt, ist ein sehr misstrauisches und pessimistisches: Ohne Schule, das heißt ohne die gezielte Intervention der Erwachsenen, gelingen Kinder, Zivilisation und Kultur nicht. Mein Menschenbild vom Kind ist jedoch konstruktiv. Für mich passen Kinder und Freiheit nicht nur gut zusammen, sondern Freiheit gelingt nur dann wirklich – und wirklich heißt: in steter Beziehung und Balance zur Freiheit des anderen und als Grundlage einer friedlichen Gesellschaft –, wenn Kinder sie in ihrem Kinderleben erfahren, wenn sie mit und in den Kindern groß wird. Wo führt das also hin, wenn Kinder über ihr Denken selbst bestimmen? In eine konstruktive freie Gesellschaft – was immer sie kennzeichnen wird. Das ist die große Antwort, die all den Fragen zunächst entgegenzuhalten ist. Dieser Denkbogen ist für mich nicht nur in der gesellschaftlichen Frage nach Diktatur oder Demokratie gültig, sondern auch in der Kinderfrage und der Schulfrage.

Menschen lernen immer, denn Menschen können nicht nicht lernen. Die Frage ist nicht die, ob Lernen stattfindet oder nicht – Lernen findet immer statt! Die Frage ist, ob ein Kind das lernen muss, was die Erwachsenen vorgeben, oder ob es das lernt, was es selbst zu lernen entscheidet – ob Lernen mit oder ohne Zwang stattfindet. Soll ein Kind lernen? Das lehne ich als unzulässigen Eingriff in die innere Freiheit eines anderen Menschen ohne Wenn und Aber ab. Ich möchte keine Zivilisation und Kultur, die auf der geistigen Bevormundung, Unterdrückung und Versklavung der eigenen Kinder beruht – und nichts anderes sehe im Lernen mit Zwang. Wer soll entscheiden über das, was gelernt wird, individuell und gesellschaftlich? Das Lernen gehört demjenigen, der lernt – nicht anderen. Ich will keine Marionetten!

Auch mir ist es wichtig, mein Wissen von der Welt weiterzugeben. Ich bin für eine kulturelle Tradierung. Aber nicht als kulturellen Imperialismus wie in Afrika oder bei den Indianern. Als Angebot, als Kommunikation von Gleich zu Gleich. Vielleicht am Anfang schwer zu realisieren, aber nicht unmöglich. Bei jedem Auslandsurlaub kann man erfahren, dass so etwas selbstverständlich gelingt, auch in Afrika oder am Ende der Welt. Von sich, seinem Wissen, seinen Werten, seinen Gefühlen – in gegenseitiger Achtung voreinander – berichten, darüber ins Gespräch kommen, Geben und Nehmen. Ich will, dass jungen Menschen die Welt – das Erwachsenenwissen von der Welt – nicht oktroyiert wird, sondern dass es ihnen vorgestellt und anvertraut wird: zur eigenen Bewertung. Die Kinder entscheiden selbst, was sie übernehmen und was nicht. Das Lernen ohne Sollen ist nicht das Ende des Lernens, sondern das Ende des Sollens beim Lernen.

Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: Junge Menschen werden als vollwertige Bürger – als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen – in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kindern gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird: »Wer ein Kind gegen seinen Willen ... wird bestraft«: Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen – diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.

Wenn dann in einhundert Jahren tatsächlich eine Welt bevorzugt werden sollte, die zum Beispiel kaum mehr Mathematik kennt, wenn dann tatsächlich keine Brücke mehr gebaut werden könnte, wenn dann die Menschen auf Booten über den Rhein und die Elbe gelangen müssten: Wenn die Menschen im Jahr 2100 dies so wollen, frei entschieden haben, nachdem sie den Nutzen der Mathematik mit ihrem Schaden in Beziehung gesetzt haben und nachdem sie sich gegen die geistige Versklavung ihrer Kinder durch 10 lange Schuljahre Mathematikunterricht entschieden haben – ist das zu verurteilen, ist die Welt dann schlechter, bricht dann das Chaos aus? Ich kann das nicht erkennen. Ich erkenne, dass Freiheit mehr Lebensqualität in sich trägt als jegliche Sklaverei. Ich erkenne, dass Menschen, die über ihr Schicksal selbst bestimmen, glücklicher sind als die, die gezwungen werden. Und zwar auch glücklicher als die, die zu ihrem Glück gezwungen werden. Und selbstverständlich auch glücklicher als die, die zu ihrem Glück mit Mathematikunterricht oder Deutsch-, Englisch-, Französisch-, Biologie-, Sport-, Physik-, Geographie-, Technik-, Religionsunterricht und allen sonstigen Unterrichten noch gezwungen werden. Ich sehe die Harmonie dieser Menschen und ihren Frieden mit sich, den anderen und der Welt.