Schule: Gegenwart

Kinder müssen zur Schule, sonst lernen sie nichts. Die Anmaßung und Menschenrechtsverletzung, die ein solcher Satz enthält, ist schwer zu erkennen und schwer zu erfühlen. Und doch kommt es gerade darauf an. Wie könnte es gelingen, das Nicht-mehr-Erkennen und das Nicht-mehr-Fühlen zu überwinden? Die folgenden Szenen aus meinem Schultagebuch sollen helfen, die verlorengegangene Sensibilität für die Würde des jungen Menschen und sein Recht auf selbstbestimmtes Lernen wiederzufinden.
 
Klassenarbeit
Es geht gleich los mit der Mathearbeit. Wird das mit der Arbeit inhuman? Wir schlendern in die Arbeit hinein, die Vorgeplänkel laufen ab. »Heute doch keine Arbeit. Heute ist doch Kirmes.« – »Was hat das denn damit zu tun?« Die Tische werden verrückt, ich teile die Arbeitsblätter aus. Dann kommt deutlich der erste Stress für mich, als einige ihre Zettel bereits beim Austeilen umdrehen und sich ansehen. Ich gehe dagegen vor, alle sollen zugleich anfangen, wenn jeder einen Zettel hat. Wegen gleicher Chancen. Mir ist unwohl, weil ich merke, dass einige es wieder tun, und ich schon sehr massiv intervenieren müsste. Ich lasse das dann, doch schon bin ich wieder genervt. Jetzt, 17.05 Uhr, denke ich so darüber: Ich hätte die Zettel von ihnen selbst verteilen lassen sollen und sofort den Start freigeben. Aber hätten sie dann auch dafür gesorgt, dass Leute an einem Tisch verschiedene Arbeiten erhalten? Ich habe zwei Arbeiten fertiggemacht, blau und gelb. Ich hätte doch wieder regulieren müssen – und auch das hätte mich genervt. Im Verlauf der Arbeit, die über zwei Stunden geht, wird es dann streckenweise sehr unruhig. Ich interveniere, Stress, Krieg. Aber es geht noch so. Ich bekomme mit, wie ihnen die Arbeit unter die Haut geht. Wenn sie über Nebensächlichkeiten laut reden (Bleistift, Radiergummi), schwingen Angst und Stress mit. Sie lassen das an diesen Dingen raus, über das Wichtige (die richtige Lösung oder einen Lösungsschritt) zu reden, ist ja verboten. Über Aufregung, Angst, Unbehagen, »Ich kann das nicht« zu reden ist nicht vorstellbar und überhaupt nicht vorgesehen. Als einer beim Reden seinen Kopf an den Arm seines Nachbarn kuschelt – da ist das für mich so bezeichnend. In all dieser Quälerei halten sie sich aneinander fest.
 
Schwimmunterricht
Frau M. redet auf Jutta ein, sie solle sich doch trauen, im Schwimmerbecken zu schwimmen. Jutta versucht und versucht, traut sich aber doch nicht. Es ist da ein ganz klarer, von Frau M. kommender Anspruch: »Los, schwimm, stell dich nicht so an, du kannst es, los endlich.« Es war nie Juttas Sache, das Schwimmen heute. Wie Frau M. die drei, die im tiefen Schwimmerbecken üben sollten, von den Nichtschwimmern absonderte, das war schon Stress, war schon kein Spiel mehr, war schon Anspruch mit der Möglichkeit des Versagens, war schon Schule. Frau M. lässt Jutta dann in Ruhe. Krasser Gegensatz: Die Nichtschwimmer, auch Jutta und die zwei anderen, spielten erst im Nichtschwimmerbecken, und sie versuchten dort für sich zu schwimmen. Warum kann Frau M. denn nicht mit denen das Schwimmen im tiefen Wasser spielen – statt es zu üben, Schule daraus zu machen? Geht nicht, ist nicht drin, überhaupt nicht und nicht in Frau M., systembedingt. Und dabei finde ich Frau M. sonst ganz nett zu den Kindern. Aber: »Sie wollen ja alle den Freischwimmer machen – da müssen sie schon mal ran.« Grausig, keine Kommunikation zu Jutta, ihren Ängsten, ihren Wünschen, ihren Ideen, ihren Vorschlägen, eben zu Jutta. Sie soll funktionieren, die Beine und Arme so und nicht anders bewegen, die Finger zusammen. Dann wird sie schwimmen können, dann kann sie den Freischwimmer erreichen. Schwimmen im schulischen Sinn. Aber was alles kann sie dann nicht! Sie selbst sein, selbst schwimmen. Jutta wird geschwommen. Nicht: Jutta bewegt sich selbst im Wasser – was selbstverständlich auch Schwimmen ist, was aber mit Schulsicht noch lange kein Schwimmen ist. Dort ist Schwimmen nicht Schwimmen, noch lange nicht. Jutta schwimmt – und ich merke, wie dieselben Worte einen verschiedenen Sinn haben, je nach Kontext. Dieselben Worte haben hier den Kontext, dass nicht mehr nach der Person gefragt wird, die schwimmt, sondern nach dem, was von dieser Person verlangt wird.
 
Abschlussrede
Nach drei Stunden, als alle im Kreis sitzen, fängt Jans an und liest seine Abschlussrede vor, aber frei, mit vielen Kommentaren und Zurufen. Sie ist nicht für Eltern oder Lehrer gemacht, sondern für seine Leute. Was ich höre, geht mich sehr an. Er sagt das, was ich über die Situation der Kinder in der Schule rausgefunden habe, was mir ernst ist und was nur so verschwindend wenige von denen, die als Erwachsene in der Schule arbeiten, als »wirklich so« akzeptieren. Für die anderen ist so was ja nur »dummes Kindergerede«. Ich spüre, dass das, was so leicht dahingesagt wird, sehr ernst gemeint ist, als Erfahrung ihrer Realität, als Wahrheit eben. Sie gehen alle mit der Rede leicht um. Aber es wird deutlich, worum es geht. Für mich ist es Ausdruck von tiefem Verletztsein und Betrogensein um die Jahre, die sie in der Schule zu sein gezwungen waren. Ich nehme die Rede von ihm ernst. Sie ist die Wahrheit der Kinder. Und ich meine, wer so etwas nicht versteht, wer keinen Zugang zu dem Inhalt so einer Rede hat, der versteht nie, was das für Kinder bedeutet: Schule.

Jans hatte seine Rede schon im Lagerfeuer verbrannt. Als ich ihn bitte, sie noch einmal aufzuschreiben, da tut er es gern. Die anderen helfen ihm dabei. Als ich von eventueller Veröffentlichung rede und ihn frage, ob er einverstanden sei, ist das für ihn in Ordnung. Aber ich merke auch, dass ihn das gar nicht mehr so interessiert. Es ist doch alles so klar. Und: Sie stehen vor Neuem – es ist so viel hinter ihnen. Ich aber verliere nicht aus dem Blick, dass sie um diese Lebenszeit betrogen wurden.
 
Die Abschlussrede
Freunde, es ist geschafft.?Zehn lange Jahre sind vorbei.?Mein herzlichstes Beileid möchte ich allerdings all denen wünschen, die noch länger in den sogenannten Schulen gefoltert werden.?Die letzten zehn Jahre waren die schlimmsten in unserem Leben.?Und werden es wohl auch bleiben.?Die Pauker haben uns dermaßen geschafft, dass manch einer sie gern vor ein Kriegsgericht stellen möchte.?Ich bin auch dafür, dass die Schulen, die Gebäude des Schreckens – Schule, das Wort, das bei Kindern wie ein Brechmittel wirkt –, abgeschafft werden. ?Aber nein, die Schulen werden noch vom Staat unterstützt. ?Doch freut euch, ihr, die ihr es geschafft habt. ?In Zukunft dürft ihr mit euren Bossen über Lohnerhöhung und seine Tochter streiten. ?Freut euch, es wird eine herrliche Zeit. ?Vergesst all das Böse, was euch in der Schule geschah, haltet die Ohren steif. ?Tschüß!