Vom Blick hinter die Kulissen: Amication und Maria Montessori - Ein Interview


Fragen: Dr. Isidor Graorac, Antworten: Dr. Hubertus v. Schoenebeck


1) »Hilf mir, es selbst zu tun« – Herr Dr. v.Schoenebeck, Sie haben als Lehrer in der Schule gearbeitet. War dieses Grundprinzip der Montessori-Pädagogik für Sie wichtig?

Nur dann, wenn die Kinder mich so etwas konkret gefragt haben. Die Montessori-Pädagogik ist eine Pädagogik, und von daher für mich Fremdland. Denn die Grundposition jeglicher Erziehung und Pädagogik – die Homo-educandus-Hypothese und die daraus resultierende Verantwortung des Erwachsenen für das Kind – teile ich nicht. Für mich sind Kinder vollwertige Menschen von Anfang an, sie werden nicht erst vollwertige Menschen im Laufe der Kindheit. Sie sind von Geburt an für sich selbst verantwortlich, dies erkenne und achte ich, und deswegen bin ich auch nicht für sie verantwortlich. Wiewohl Maria Montessori als pädagogischer Mensch sich sehr wohl für Kinder verantwortlich fühlt. Ich kann aus meiner amicativen Position alle Erkenntnisse, Konzepte und Vorschläge der pädagogischen Welt ansehen und entscheide dann, was ich davon in meine Kommunikation mit den Kindern übernehmen oder abgewandelt übernehmen will. »Hilf mir, es selbst zu tun« finde ich viel zu theatralisch, so etwas ist doch selbstverständlich. Warum macht Maria Montessori so eine Banalität zum Prinzip? Das ist mir unklar. Wenn die Kinder meine Hilfe zur Selbsthilfe wollen, dann bin ich für sie da.


2) Maria Montessori sagt 1922, dass die Schule eine Lebensstätte ist und dass der Lehrer eine Mission, ein schweres Amt hat, der Diener des Kindes zu werden. Haben Sie Ihre Lehrerrolle auch so verstanden?

Die Schule ist für die Kinder keine freiwillige Sache. Die Kinder werden nicht gefragt, ob sie überhaupt dorthin wollen, es besteht gesetzlicher Schulzwang. Wie kann etwas, das einem oktroyiert wird, eine »Lebensstätte« sein? Die Schule ist für die Kinder ein Teilzeitgefängnis, in dem die Erwachsenen sich herausnehmen, sie zum wahren Menschen zu formen. Eine Stätte, in der man sich wohlfühlt und gern aufhält, ist so etwas nicht. Pädagogische Menschen wie Maria Montessori thematisieren diesen Zusammenhang nicht, da sie von der Notwendigkeit der Erziehung für die Menschwerdung des Kindes überzeugt sind – und von diesem Denken her kann man es den Kindern dann schön einrichten, eben eine »Lebensstätte« schaffen wollen. Die grundsätzliche Inhumanität und die kulturimperialistische Position, die hierin verborgen sind, lassen sich erst mit amicativem Denken erkennen.

Ich bin niemandes Diener, ich gehöre mir selbst. Von dieser meiner souveränen Position aus gehe ich zu anderen Menschen, auch zu Kindern. Dann werden wir sehen, was wir miteinander tun können. Wir begegnen uns authentisch: Hubertus als Person mit seinen Facetten, die Kinder als jeweilige Person mit ihren Facetten. »Dienen« ist da unpassend. Wenn ich Kindern helfe, sie anleite, etwas erkläre, dann tue ich das ohne die Attitüde des Dienens. Außerdem: Ein Erwachsener ist niemals wirklich der Diener eines Kindes (es sei denn bei Königs). So etwas ist doch letztlich nur methodisch, ein Trick oder eine List, um die Kinder dahin zu bekommen, wohin man sie haben will. Und um es sich schönzureden, dass man doch so großherzig ist, ihnen zu dienen. Dieses »Diener des Kindes« ist ein Teil des Montessori-Konzepts, mit dem verschleiert wird, was in der Schule tatsächlich geschieht: die kulturelle Unterwerfung der nachwachsenden Generation unter die Standards der herrschenden Erwachsenen.
 
3) Maria Montessori schreibt 1950 in ihrem Buch »Kinder sind anders«, dtv 2001, S. 108 f.: »So kommt es, dass das Bewusstsein des Kindes von Liebe erfüllt ist, ja dass das Kind erst durch die Liebe zur Selbstverwirklichung findet.« Und: »Die kindliche Liebe kommt aus der Intelligenz, und sie baut auf, indem sie liebevoll sieht und beobachtet. Die Eingebung, die das Kind drängt zu beobachten, ließe sich mit einem Wort Dantes ‚intelletto d´amore (Intelligenz, Schaukraft der Liebe)‘ nennen. ... Dieses aktive, brennende, eingehende und dauernde Sichversenken in Liebe ist ein Merkmal des Kindesalters. ... Im Kinde ist die Liebe noch frei von Widersprüchen.« – Herr Dr. v.Schoenebeck, stimmen Sie zu?

Ich bitte Sie, wer weiß denn schon wirklich, was Liebe ist? Das gilt doch erst recht für die Liebe, die Kinder empfinden! Da kann jeder spekulieren und seiner Intuition freien Lauf lassen. Und das ist auch gut so. Und wenn Maria Montessori das so sieht ... Ich selbst habe mich so etwas bisher nicht gefragt, es geht mich nichts an, wie in einem anderen Menschen die Liebe lebt. Mich stört bei dieser Passage das, was mich generell bei Maria Montessori stört: Dass sie so fulminant dort herumfuhrwerkt, wo ich in Respekt, Achtung und vielleicht auch Demut eine Grenze erkenne, die ich nicht überschreite. Dort nämlich, wo nach meiner Auffassung das souveräne Land des Kindes beginnt. Was muss sie  in diesem intimen existentiellen Bereich des Kindes die Verkünderin der Wahrheit spielen? Ich finde so etwas eigentlich ungehörig und hätte mich mit Maria Montessori hierüber gern einmal unterhalten.
 
4) Maria Montessori sagt: »›Dem Leben helfen‹ ist das erste fundamentale Prinzip.«– Wie verstehen Sie als ehemaliger Lehrer diese Aussage?

Jede Beziehung kann etwas mit »Helfen« zu tun haben, muss es aber nicht. Wenn ich mit Kindern zusammen bin – auch als Lehrer –, dann findet Kommunikation statt. Ob unsere Beziehung dann hilfreich sein wird für die Kinder und/oder für mich, wird sich zeigen. Ich setze mich in meiner Beziehung mit Kindern nicht unter den Druck, hilfreich sein zu sollen. Wenn Hilfreiches geschieht, ist dies ein Geschenk des Lebens, das sich zwischen uns ereignet, und darüber freue ich mich und bin dankbar. Aber ich instrumentalisiere diese Großartigkeit »Helfen« nicht zu einem Prinzip. Es hört sich gut an, Helfen zu einem Prinzip zu machen, aber ich sehe darin eine subtile Destruktivtät. Denn Helfen als Prinzip missachtet das Prinzip der Realität, das Prinzip des »Es soll« wird an die Stelle des Prinzips des »Es ist« gesetzt. Ich bin real-existentiell präsent, Maria Montessori ist moralisch-missionarisch präsent. Was angemessener ist, lässt sich nicht objektiv entscheiden, ich sehe das so, Maria Montessori anders. Im übrigen, es tut mir leid, ist diese Aussage schon wieder für meine Ohren nicht akzeptabel. Ich würde mir nie einfallen lassen, einer solchen Wirkmacht wie dem Leben helfen zu wollen – ganz andersherum wird ein Schuh draus: ich freue mich, wenn das Leben mir hilft!
 
5) Herr Dr. v.Schoenebeck, sie haben sich bisher kritisch zu Maria Montessori und ihrer Pädagogik geäußert. Können Sie sich überhaupt vorstellen, dass es für Montessori-Pädagogen gewinnbringend sein könnte, sich mit der amicativen Theorie und Praxis zu beschäftigen?

Es gibt seit über 25 Jahren eine amicative Praxis. Meine älteren Kinder sind inzwischen erwachsen, ich habe zwei Enkelkinder. Außerdem bin ich Vater von zwei Kleinkindern. Ich will sagen: die amicative Theorie hat längst die dazugehörige und auch real funktionierende Praxis. Jeder, auch ein Montessori-Pädagoge, kann diese Theorie und Praxis kennen lernen, und ist eingeladen. Amication ist in der Postmoderne verwurzelt, mithin nicht wertvoller als Pädagogik. Amication ist ein Angebot, keine Besserwisserei. Meine kritischen Aussagen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, aber mein Tenor ist nicht der einer Brüskierung. Auch wenn ich oft so empfunden werde. Wenn die amicative Position vorgetragen wird, kann man sie selbstverständlich abtun. Aber man kann Amication auch als einen Impuls nutzen, um die eigene Position zu überdenken und zu begründen. In Gesprächen mit pädagogisch eingestellten Menschen sehe ich mich in harten aber achtungsvollen Auseinandersetzungen, und ich wüsste eigentlich nicht, warum auf meine Ausführungen nicht ebenso geantwortet werden könnte. Und Antworten ist der Beginn einer fruchtbaren Begegnung.

Von dem Gewinn, der in einer achtungsvollen Auseinandersetzung liegt, einmal abgesehen, enthält der amicative Ansatz aus meiner Sicht für jemanden, der nach den Prinzipien von Maria Montessori arbeitet, ein befreiendes Element: Er kann Maria Montessori und all denen, die in der Montessori-Pädagogik Autorität haben, fragend entgegentreten. Er kann hinterfragen und alles an der eigenen subjektiv wahren Ethik messen. Amication sagt jedem Montessori-Pädagogen, dass er selbst es ist, der darüber entscheidet, wie viel Montessori er in sein Denken und Handeln einfließen lassen will.
Ein Beispiel. Meiner Meinung nach wird jemand, der in einem Montessori-Kindergarten oder einer Montessori-Schule arbeitet, ein Authentizitätsproblem bekommen müssen, wenn er diese Forderungen Maria Montessoris ernst nimmt: »Wir bestehen mit Nachdruck darauf, dass der Lehrer sich innerlich vorbereiten muss: er muss mit Beharrlichkeit und Methode sich selber studieren, damit es ihm gelingt, seine hartnäckigsten Mängel zu beseitigen, eben die, die seiner Beziehung zum Kinde hinderlich sind.« (Kinder sind anders, dtv 2001, S.153). Das amicative »Ich liebe mich so wie ich bin« ist da von anderer Qualität, und mit den »Mängeln« des Charakters wird anders verfahren. Das pädagogische »Mängel beseitigen« wird als nicht weiterführend erkannt; denn Mängel sind Teile des Selbst, denen Achtung zukommt und mit denen konstruktiv umzugehen man lernen kann. Wie auch immer: Amication bietet jedem, der erzieherisch tätig ist, auch Montessori-Pädagogen, einen unkomplizierten Weg zu sich selbst an. Im Mittelpunkt steht der Einzelne, der Handelnde, der Pädagoge – Sie –, nicht das Kind, nicht die Sache oder sonst was. Von dieser Ich-Position aus wird dann Ausschau gehalten nach der Welt und den Kindern, auch nach Maria Montessori und der aktuellen Montessori-Pädagogik. Und dann habe ich gelegentlich Lust, Maria zu fragen, was sie für Einfälle und Vorschläge für das Zusammensein mit Kindern hat.

6) Aus meiner Kenntnis der Werke großer Pädagogen möchte ich sagen, dass sie manchmal unbewusst amicativ dachten. Und vielleicht war die Praxis von Janusz Korczak und Alexander Neill sogar amicativer als die von Ihnen!

Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! Amicatives Denken setzt den radikalen Bruch mit dem pädagogischen Denken voraus. Für das amicative Denken gibt es eine andere anthropologische Basishypothese als für das pädagogische Denken. Im amicativen Denken gilt: Das Kind ist ein zu 100 Prozent selbstverantwortliches Wesen von Anfang an, das Kind ist ein zu 100 Prozent vollwertiger Mensch von Anfang an. Beides wird im pädagogischen Denken anders gesehen. Im pädagogischen Denken gilt: Das Kind ist noch kein selbstverantwortliches Wesen von Anfang an, sondern es lernt erst im Laufe der Kindheit die Selbstverantwortung. Das Kind ist noch kein zu 100 Prozent vollwertiger Mensch von Anfang an, sondern wird dies erst im Laufe der Kindheit durch Erziehung. Dieser radikale Gegensatz ist nicht vermischbar, es gibt keine Grauzone. Es ist also zu überlegen, welche Basispositionen haben Korczak, Neill und andere große Pädagogen. Da sowohl Korczak als auch Neill als auch alle anderen großen Pädagogen an der Menschwerdung des Kindes – ein jeder auf seine spezielle Art – arbeiten, erkenne ich nicht irgendein amicatives Element in ihrem Denken. Es muss darauf geachtet werden, dass freundliches, achtungsvolles, respektvolles, liebevolles, usw. usw. Verhalten nicht ausreicht, um schon von amicativer Substanz zu sein. Selbstverständlich sind all die berühmten Pädagogen liebevoll, freundlich usw. Amicativ wird es aber erst dann, wenn sie ihr Homo-educandus-Menschenbild nicht mehr in sich tragen. Anders ausgedrückt: Solange sich Korczak, Neill und andere noch verantwortlich für Kinder und ihre Entwicklung fühlen, sind sie auf sicherem pädagogischen Boden. Erst wenn sie sich nicht mehr für Kinder verantwortlich fühlen – weil sie erkennen, dass die Kinde dies ja selbst sind –, betreten sie amicatives Land. Und erst dann, wenn sie so verantwortungs-los auf die Kinder zugehen, wird ihre konkrete Beziehung, ihre Praxis, amicativ genannt werden können. Ich sehe nicht, dass irgendein großer Pädagoge dies realisiert hat. Nicht Rousseau, Comenius, Kant, Pestalozzi, Fröbel, Petersen, Montessori, Korczak, Neill, Freinet, Makarenko noch sonst wer. Ich finde in ihren Schriften keinerlei Hinweis darauf, dass sie sich von ihrer Verantwortung für Kinder losgesagt hätten, ganz im Gegenteil. Gerade die großen Pädagogen sind ganz besonders voll von Verantwortung für Kinder, mehr als andere.

7) Wie definieren Sie »Selbstverantwortung«?

Eine Definition soll helfen, etwas klarer zu machen. Der amicative Begriff »Selbstverantwortung« ist aber nicht definierbar. Er ist etwas anderes als eine intellektuelle Position, er ist ein existentieller Wert. Sie können zum Beispiel auch nicht ein Bild von Picasso oder eine Sinfonie von Beethoven definieren. Und wenn Sie das nicht können, verlassen Sie nicht Anspruch und Wissenschaftlichkeit, sondern Sie bemerken mit wissenschaftstheoretischem Überblick, welche Parameter angemessen sind, um die Wirklichkeit korrekt zu erfassen. In der Kunst und Musik gelten andere Maßstäbe als in der abstrakten Analyse einer Theoriediskussion. Sie können darüber streiten und Sie können fragen, wie man damit auskommt und welche Konsequenzen es hat, wenn man Kinder amicativ und damit selbstverantwortlich sieht. Aber sie wollen eine Definition. Sie wollen Klarheit. Sie werden diese Klarheit aber nicht auf diesem Weg erhalten. Selbstverständlich lässt sich die amicative Position auch klar erkennen: mit dem Herzen, der Erfahrung, der Intuition, dem taoistischen »Tun ohne Tun« und anderen emotionalen und existentiellen Möglichkeiten. Was Amication ist, wird auch klarer, wenn Sie weiter mit mir im Gespräch bleiben und ihr Denken sich verleiten lässt, mir ein wenig zu folgen ... Wollen Sie das? Wollen Sie sich auf ein solches Abenteuer einlassen? Ich habe das in meinem Dissertationsprojekt mit den Kindern vor 25 Jahren gemacht und mir von den Kindern die amicative Welt zeigen lassen. Man muss eine gewisse Bereitschaft mitbringen, sich selbst zu verändern oder verändern zu lassen ... Mit einer intellektuellen Definition hat so etwas nichts zu tun, wohl aber mit existentiellen Wahrheiten. So etwas entzieht sich nun nicht der Diskussion. Genau darüber kann man sich austauschen, existentielle Erkenntnisse sind kommunikabel. Vielleicht lesen Sie eins meiner Gedichte:

wenn
ich
mich
ihnen
aussetze
so geschehen
verwandlungen in mir
die mit dem zu tun haben
wie sie sind

ich
kann dies
mit meinem nachdenken erreichen
aber dann ist die verwandlung
schon längst geschehen
und
die
loslösung
hat begonnen