Vom Moralisieren emanzipieren

Das objektiv gefärbte Urteil über den anderen enthält ein destruktives Element: Es setzt den objektiven Urteiler über den Beurteilten, und der Beurteilte fühlt sich unten, klein gemacht, demoralisiert. Wenn Urteilen mit objektivem Anspruch stattfindet, wird eine Erlebniswelt gestützt, die es in der Amication gerade zu überwinden gilt: Den erhobenen Zeigefinger, den Ton des Besseren, die Missachtung des Nicht-so-Guten, die »überlegene« Art des Aufgeklärteren, Einsichtigeren, Zurückhaltenderen, Freundlicheren, Gütigeren, Informierteren, psychologisch Geschulteren, des Klügeren, der nachgibt, des politisch Korrekten, usw. – immer ein Element, das dem anderen die schlechtere Position zuschiebt.

Stets, wenn dieses Moralisieren stattfindet, lässt sich ein Kälteschub in der Beziehung wahrnehmen. Die in der Kindheit erlernten und tief eingeprägten Erstarrungen und Ohnmachtgefühle schwappen heran, ungute Gefühle machen sich breit. Das Moralisieren ist dabei nicht an Formulierungen gebunden, diese können sich sehr höflich und freundlich geben. Moralisieren ist eine Sache des Tons, des psychischen Austauschs, des Gefühls und der Einstellung.

In der Amication wird all dies gesehen und für nicht gut befunden. Die grundlegende Gleichwertigkeit der Amication schließt jegliches Moralisieren aus. Wer amicativ leben will, will nicht (mehr) moralisieren. Dass es dennoch immer wieder vorkommt, gehört zur Realität amicativer Menschen und kommt aus ihrer pädagogischen Vergangenheit. Es gehört aber auch zur Amication, sich sein Moralisieren nicht zum Vorwurf zu machen, sich also nicht selbst zu moralisieren, wenn man in das unerwünschte Moralisieren verfallen ist. Aber wenn man will, kann man das Unheil, das im Moralisieren liegt, mit einer Geste wieder aus der Welt schaffen: »Es war nicht so gemeint. Ich habe nicht wirklich recht. Tut mir leid. Ich habe mich nur schrecklich geärgert.« Und sich so Schritt für Schritt vom Moralisieren emanzipieren.