Deutsches Kindermanifest - Die neuen Rechte

Anfang der 70er Jahre erscheint Literatur über Kinder mit gänzlich neuen Aussagen. Bereits die Buchtitel machen darauf aufmerksam, dass mit einer neuen, ja revolutionären Perspektive über Kinder nachgedacht wird. Einige dieser vorwiegend aus den USA kommenden Titel lauten:

–    Children’s Rights. Toward the Liberation of the Child (Paul Adams, et al., 1971)
–    Free the Children (Allen Graubard, 1972)
–    Children’s Liberation (David Gottlieb, ed., 1973)
–    The Self-Managed Child. Paths to Cultural Rebirth (William F.Pepper, 1973)
–    Their Universe. The Way Children Feel (Arlene Uslander, et al., 1973)
–    Liberated Parents – Liberated Children (Adele Faber and Elaine Mazlish, 1974)
–    Birthrights. A Bill of Rights for Children (Richard Farson, 1974)
–    Escape from Childhood. The Needs and Rights of Children (John Holt, 1974)

Die Autoren gehen davon aus, dass Kinder ihr Leben in eigener Regie – Selbstbestimmt – führen können. Sie erkennen, dass jeder Mensch von Anfang an dazu in der Lage ist, das jeweils Angemessene und Sinnvolle aus seiner eigenen Perspektive heraus wahrzunehmen. Für die Ausführung der selbst getroffenen Entscheidungen wird zwar die Unterstützung der Eltern benötigt, doch schmälert diese Ergänzung nicht die Souveränität eines jeden noch so jungen Menschen. Die Selbstbestimmung des Kindes ersetzt die Erziehung zum Menschen. Kinder sind vollwertige Menschen von Anfang an.

Eine solche Position ist für die traditionelle pädagogische Denkweise schwer verständlich. Dennoch wird sie nun auch bei uns für mehr und mehr Menschen möglich, so wie dies in anderen Kulturen völlig selbstverständlich ist. Beispielsweise ist für viele indianische Völker die Selbstbestimmung des Kindes die Grundlage des Umgang von Erwachsenen und Kindern.

Einige der Autoren treten aber nicht nur für einen neuen Umgang mit Kindern ein, sondern sie wollen auch die politische Emanzipation, die Gleichberechtigung des Kindes. Insbesondere Richard Farson und John Holt stellen Forderungen zur Emanzipation des Kindes, und die französische Autorin Christiane Rochefort schreibt 1976:

»Mitten in unserer modernen ›Demokratie‹ leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft – mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben keinerlei Rechte, außer den von oben herab diktierten, die jederzeit widerrufen werden können.

Kinder werden in ihrer Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächst niedrige Klasse.« aus: Christiane Rochefort, Kinder, München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 u. 50

Richard Farson: »Die Bürgerrechtsbewegung und andere von ihr ausgelöste Initiativen haben uns schließlich auf die mannigfaltigen Unterdrückungsformen in unserer Gesellschaft aufmerksam gemacht. Wir können nun die Kinder so sehen, wie sie sind: machtlos, unterjocht, missachtet und vernachlässigt. Allmählich begreifen wir, wie notwendig eine Emanzipation der Kinder ist.

Wenn ihre Rechte einmal durchgesetzt sein werden, dann ist der Anstoß dazu von Rechtsanwälten und Richtern, Psychiatern und Pädagogen, Sozialarbeitern und politischen Reformern, Eltern und auch den Kindern ausgegangen. Sie alle werden dann erkannt haben, dass auf Freiheit und Demokratie nicht nur Erwachsene einen Anspruch haben.

In allen Bereichen stellt man mit Besorgnis fest, wie sehr sich Erwachsene bei der übertriebenen und willkürlichen Kontrolle auf ihre Macht und Autorität stützen. Doch in unserem Kulturkreis, aus dem im Verlauf von Jahrhunderten die Kinder allmählich aus der Welt der Erwachsenen ausgeschlossen wurden, wächst nun die Erkenntnis, dass Kinder ein Recht auf Eingliederung in unsere Gesellschaft haben.« aus: Richard Farson, Menschenrechte für Kinder, München 1975 (Birthrights, USA 1974), S. 7 f

Richard Farson fordert für Kinder das Recht auf freie Wahl der Umgebung, das Recht auf eine kindgemäße Umwelt, das Recht auf Wissen, das Recht auf Selbsterziehung, das Recht auf Leben ohne Körperstrafe, das Recht auf sexuelle Freiheit, das Recht auf wirtschaftliche Betätigung, das Recht auf politischen Einfluss, das Recht auf Gerechtigkeit.

John Holt will »jedem jungen Menschen, gleich welchen Alters, alle Rechte, Privilegien, Pflichten und Verantwortlichkeiten erwachsener Bürger zugänglich machen, damit er sich ihrer bedienen kann, wenn er möchte«. Er fährt fort: »Dazu würde unter anderem zählen:

1.  Das Recht auf gleiche Behandlung vor dem Gesetz – d.h. das Recht, in jeder Situation nicht schlechter behandelt zu werden als Erwachsene.
2.  Das Recht, zu wählen und vollen Anteil am politischen Leben nehmen zu können.
3.  Das Recht, für sein Leben und seine Taten die rechtliche Verantwor­tung zu tragen.
4.  Das Recht, für Geld zu arbeiten.
5.  Das Recht auf ein Privatleben.
6.  Das Recht auf finanzielle Unabhängigkeit und Verantwortung – d.h. das Recht, Eigentum zu besitzen, zu kaufen und zu verkaufen, Geld zu leihen, Kredite zu gewähren, Verträge abzuschließen etc.
7.  Das Recht, sein Lernen selbst zu lenken und zu verwalten.
8.  Das Recht, zu reisen, außerhalb seines Elternhauses zu leben, sein eigenes Zuhause zu wählen oder zu begründen.
9.  Das Recht, zu bekommen, was immer der Staat seinen erwachsenen Bürgern an Minimaleinkommen zusichert.
10.Das Recht, auf der Grundlage gegenseitiger Übereinstimmung fami­lienartige Beziehungen außerhalb seiner unmittelbaren Familie zu begründen und anzuknüpfen – d.h. das Recht, andere Personen als seine El­tern zum Vormund zu erwählen und sich in ihre Abhängigkeit zu begeben.
11.Das Recht, generell alles zu tun, was jeder Erwachsene im Rahmen der Gesetze tun darf.« aus: John Holt, Zum Teufel mit der Kindheit, Wetzlar 1978 (Escape from Childhood, USA 1974), S. 13 f.

Und: »Es wird heutzutage viel über die ›Rechte‹ von Kindern geschrieben. Viele Autoren gebrauchen dieses Wort in dem Sinne, dass Kinder etwas haben sollten, mit dem wir wohl alle einverstanden sind: ›Das Recht auf ein gutes Zuhause‹ oder ›Das Recht auf eine gute Erziehung‹. Ich verstehe demgegenüber unter dem Wort dasselbe, was gemeint ist, wenn von den Rechten Erwachsener die Rede ist. Ich bestehe darauf, dass das Gesetz den Kindern und Jugendlichen die gleichen Freiheiten einräumt und garantiert, die es heute Erwachsenen einräumt, damit sie bestimmte Entscheidungen treffen, bestimmte Dinge tun und bestimmte Verantwortungen tragen können. Dies bedeutet umgekehrt, dass das Gesetz gegen jeden vorgehen sollte, der die Kinder und Jugendlichen an der Ausübung ihrer Rechte hindern will.« aus: John Holt, a.a.O., S. 114

1977 erscheint in den USA ein Buch, das über 50 Initiativen vorstellt, die sich für die Emanzipation des Kindes engagieren. Es wird von Beatrice und Ronald Gross herausgegeben und trägt den programmatischen Titel »The Children’s Rights Movement« (Die Kinderrechtsbewegung). Hierbei geht es um die Selbstbestimmung, die Gleichberechtigung und die politische Emanzipation des Kindes – um vollwertige Menschenrechte und Bürgerrechte für Kinder.

Die neue Art, Kinder zu sehen, führt in Deutschland zu einer ersten breit angelegten empirischen Studie in den Jahren 1976 bis 1978. Hubertus von Schoenebeck, Determinanten personaler Kommunikation mit jungen Menschen – das Kommunikationsmodell Amication, Dissertation Universität Osnabrück 1980. Forschungsbericht: Hubertus von Schoenebeck, Gast im Kinderland, Münster 1997 Aus ihr wird die Philosophie »Amication« und das Konzept der erziehungsfreien Lebensführung »Freundschaft mit Kindern« oder »Unterstützen statt erziehen« entwickelt. Darin werden Erwachsene zu einem neuen Selbstverständnis ermutigt. Ein jeder kann die traditionelle Elternschaft zurücklassen und sich aus der Erziehungsverantwortung für Kinder lösen. Statt dessen können Eltern die Selbstverantwortung und Selbstbestimmung des Kindes anerkennen und ihren Kindern authentisch und gleichberechtigt von Person zu Person begegnen.

1978 wird zur Verbreitung der erziehungsfreien Lebensführung der »Freundschaft mit Kindern – Förderkreis e.V.« gegründet. In der Satzung heißt es: »Der Zweck des Vereins ist es, diejenige Art des Zusammenlebens von erwachsenen und jungen Menschen zu fördern, in der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrem Alter die Grundlage ist und in der junge Menschen von Geburt an in der Ausübung ihrer Menschenrechte unterstützt werden.« aus: Freundschaft mit Kindern – Förderkreis e.V., Satzung § 2 Satz 1, Münster 1978